von Tine in Trainingsgedanken am 2. August 2016
Es gibt ein Thema, das mir in persönlichen Gesprächen, beim Unterrichten oder auch beim Lesen in den diversen Internetforen immer wieder begegnet - wenn etwas persönlich (genommen) wird.

Sehr oft beziehen wir das Verhalten unseres Gegenübers, und dabei ist es egal, ob es unser Partner, unser Hund, unser Pferd, oder sogar eine zufällige Bekanntschaft ist, direkt und 1:1 auf uns. In Zeiten von Programmen wie WhatsApp und Co., die uns kontinuierlich darüber informieren, wie schnell unser Gesprächspartner unsere Nachricht liest und wie lange er für seine Antwort braucht, fällt es immer schwerer sich vorzustellen, dass auch noch andere Dinge im Leben des Gegenübers eine Rolle spielen, die mit uns schlicht und ergreifend wenig zu tun haben.

Stellt euch mal vor, ihr hattet einen stressigen Tag im Büro, auf dem Weg in den Stall seid ihr in einen Stau geraten, am Stall werdet ihr von eurem Stallbesitzer angesprochen, der euch über die nächste Erhöhung der Stallmiete unterrichtet, eigentlich ist die Zeit auch schon recht knapp, und als ihr dann endlich am hintersten Ende der Weide bei eurem Pferd ankommt... dreht dieses sich um und geht.

Solche Tage kennt wahrscheinlich jeder von uns, und genauso das Gefühl "Warum passiert das immer mir?"



Oder ihr trainiert schon eine Weile an einer Übung, zum Beispiel beim Longieren. Die ersten Einheiten waren wirklich anstrengend und frustrierend, da euer Pferd immer wieder stehengeblieben ist, die Richtung gewechselt hat, nach euch geschnappt hat oder dauerhaft zum Gras gezogen ist. Seit einer Weile läuft es aber ziemlich gut, zwischen den Einheiten gibt es deutliche Fortschritte und das Training beginnt richtig Spaß zu machen. Und dann kommt eine Einheit... in der auf einmal alles wieder ist, wie ganz zu Beginn.

Gedanken wie "Heute sucht das Pferd aber förmlich nach Gründen, um sich fest zu starren" oder "Jetzt stell dich nicht so an, es ist doch alles wie immer" sind wahrscheinlich niemandem von uns unbekannt.

Schwieriger zu erkennen, da noch viel subtiler, aber doch unglaublich weit verbreitet: Ihr lest Bücher über Training und besucht Kurse bei guten Trainern, eurem Pferd fehlt es in der Haltung und beim Futter an nichts, ihr hinterfragt fast täglich, ob ihr für das Pferd noch etwas verbessern könnt... und doch zeigt euer Pferd Anzeichen für Stress, wie Schnappen oder Buckeln.

Nicht nur einmal fragt ihr euch, was ihr falsch macht, und ob es das Pferd nicht bei jemand anderem besser gehen würde, der mehr Ahnung hat.

All diese Beispiele haben das unterschwellige Gefühl gemeinsam, nicht gut genug zu sein, ein schlechter Trainer zu sein, vom Pferd nicht gemocht oder ernst genommen zu werden. Die daraus entstehenden Gefühle sind Ich-bezogen, und es ist einfach zu übersehen, dass es eben auch noch einen zweiten Partner in der Beziehung gibt, mit seinem ganz eigenen Erleben.

Die folgenden Gedankengänge sollen euch helfen, gelassener mit solchen Situationen umzugehen.


Eigentlich wollte ich an dieser Stelle etwas Anderes schreiben, aber ich habe neulich einen wundervollen Artikel gelesen, dessen Gedankengänge ich hier gerne aufgreifen möchte. In diesem Artikel hat die Autorin fünf Punkte formuliert, die ihr helfen, eine klare Linie für die Beziehung zu ihrem Kind zu finden.

Mir persönlich hilft es besonders in Situationen, in denen ich mich enttäuscht, wütend oder traurig fühle, zu hinterfragen, welches meiner eigenen Bedürfnisse in diesem Moment unerfüllt ist. Das hilft mir dabei, nicht reaktiv zu reagieren, sondern aktiv nach einer Lösung zu suchen. Und mir hilft es, die Gefühle und Bedürfnisse von Anderen - und natürlich auch meinen Tieren - besser zu deuten, und konstruktiv damit umzugehen.

Sowohl das Handeln meines Pferdes, als auch mein eigenes Handeln, ist permanent auf die Erfüllung von Bedürfnissen ausgerichtet.
1. Das Handeln meines Kindes sowie mein eigenes ist permanent auf die Erfüllung von Bedürfnissen ausgerichtet.


Egal ob beim Fressen oder beim gedankenverlorenen Ohren kraulen - alles was wir oder unsere Pferde tun, erfüllt ein Bedürfnis. Nähe, Distanz, Nahrung, Sozialkontakt, Ruhe, Bewegung, all dieses sind Bedürfnisse, zu deren Befriedigung verschiedenste Verhaltensweisen existieren. Beim Umgang mit unseren Pferden liegt unser Fokus oft zu sehr auf dem beobachtbaren Verhalten und Begriffen, denen wir es zuschreiben, wie z.B. Freundschaft oder Dominanz, und zu wenig auf den Bedürfnissen, die in diesem Moment existieren. Treffen konkurrierende Bedürfnisse aufeinander, wie Nähe und Distanz, ist es wichtig Kompromisse zu finden, bei denen keiner der Partner dauerhaft zurückstecken muss.

Die Bedürfnisse meines Pferdes sind genauso wichtig, wie meine eigenen - meine eigenen Bedürfnisse sind genauso wichtig, wie die meines Pferdes.
2. Die Bedürfnisse meines Kindes sind genauso wichtig, wie meine eigenen.


Es gibt kein Bedürfnis, das wichtiger ist, als ein anderes. Genauso wenig sind die Bedürfnisse eines Lebewesens wichtiger, als die eines anderen. Es ist vollkommen in Ordnung zu sagen, ich möchte nicht, dass mein Pferd in meine Sachen beißt oder aber auch zu sagen, ich möchte gerne auf meinem Pferd reiten. Genauso ist es in Ordnung, wenn das Pferd zeigt, dass es nicht berührt werden möchte, oder wenn es zeigt, dass das Gras genau an dieser Stelle besonders lecker ist. Was wir letztendlich daraus machen, welche Bedürfnisse erfüllt werden können, und welche nicht (oder erst später), hängt immer von der gegebenen Situation ab. Kein Außenstehender kann das für uns entscheiden, auch nicht Facebook oder Bücher. Wichtig ist, dass wir im Rahmen unseres eigenen Glaubenssystems handeln, und anderen - auch unseren Pferden - zugestehen, dasselbe zu tun.

Niemand, und schon gar nicht mein Pferd, tut etwas "gegen mich", sondern immer nur etwas für sich!
3. Niemand (besonders nicht mein Kind!) tut etwas „gegen mich“, sondern immer nur etwas für sich!


Arbeitsverweigerung - oder juckendes Fell? Es lohnt sich immer zu hinterfragen, welches Bedürfnis das Pferd gerade mit seiner Handlung befriedigt. Vielleicht können wir ihm schon durch einfache Maßnahmen, wie z.B. einer Fliegendecke während des Trainings, dabei helfen, sich besser konzentrieren zu können. Oder wie wäre es mit einer ausführlichen Krauleinheit?

Aggressives Verhalten meines Pferdes ist ein Ausdruck seiner inneren Not.
4. Wenn mein Kind aggressives Verhalten zeigt, ist das ein Ausdruck seiner inneren Not.


Egal ob das Pferd die Ohren anlegt, droht, nach uns schnappt oder tritt, oder gar steigt - alle diese Verhaltensweisen sind Zeichen für die Hilflosigkeit des Pferdes in diesem Moment, die Unfähigkeit, diese Situation anders zu lösen. Egal ob der Auslöser in diesem Moment für uns offensichtlich und nachvollziehbar ist, oder nicht, für das Pferd existiert in diesem Moment eine ganz reale körperliche, z.b. durch Schmerzen ausgelöste, oder psychische, z.B. durch die Erinnerung an eine vergangene beängstigende Situation ausgelöste, Bedrohung. Diese Verhaltensweisen durch Strafe zu unterdrücken kann das "Problem" zwar für eine Weile scheibar beseitigen - für eine dauerhafte Verbesserung der Situation sorgt aber nur eine genaue Analyse der Situation, der Auslösereize und der in dem Moment relevanten Bedürfnisse. Es ist wichtig, es nicht als persönlichen Angriff zu werten, und daraufhin persönlich und emotional zu reagieren, sondern auch Verständnis für unsere Pferde zu haben, und ihre Notlage ernst zu nehmen.

Mein Pferd arbeitet von Herzen gern mit mir zusammen, wenn es nicht dazu gezwungen wird, sondern es aus freiem Willen und im Rahmen seiner Fähigkeiten tun kann.
5. Mein Kind unterstützt mich in allen Lebenslagen von Herzen gern, wenn es nicht dazu gezwungen wird, sondern es aus freiem Willen und im Rahmen seiner Fähigkeiten tun kann.


Wenn wir unseren Pferden kleinschrittig erklären, was wir uns von ihnen wünschen, und dabei im Auge behalten, was sie mental und körperlich leisten können, können wir gemeinsam viel Spaß am Training haben. Auch komplexe Aufgabenstellungen sind, mit der richtigen Vorbereitung, kein Problem. Ein Pferd, welches die Aufgabe über positive Verstärkung gelernt hat, wird immer bereit sein, noch ein kleines bisschen über sich hinaus zu wachsen. Ein Pferd hingegen, welches die geforderten Aufgabenstellungen nur erfüllt, um einen unangenehmen Reiz zu vermeiden, wird immer nur gerade soviel anbieten, wie nötig. Schaffen wir einen Rahmen, in dem das Pferd die Wahl hat, sich freiwillig für die Zusammenarbeit mit uns zu entscheiden, wird es dies mit Freude tun.

Macht euch doch einmal eine Liste, welches eure Bedürfnisse sind, wenn ihr in den Stall fahrt. Und welche Bedürfnisse hat euer Pferd? Besonders wenn es scheinbar immer wieder schief läuft oder eskaliert kann solch eine Liste helfen, Lösungen zu finden. Bekommt euer Pferd zum Beispiel nur rationiertes Heu, und ihr kommt immer kurz vor der Fütterungszeit in den Stall? Ist euer Pferd dann unleidlich, schnappig, rempelig, oder evtl. auch sehr schlapp und lethargisch? Vielleicht könnt ihr einfach eure Stallzeit verlegen, oder das Pferd am Putzplatz eine halbe Stunde aus einem Heunetz fressen lassen. Oft reichen kleine Management-Maßnahmen, um die gemeinsame Zeit wesentlich zu verbessern. Und falls das nicht möglich ist, hilft euch die Liste dennoch, zu akzeptieren, dass es in dieser konkreten Situation vielleicht einfach nicht anders geht - und das Pferd nicht so handelt, weil es euch nicht mag oder euch etwas Böses will.

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Über mich

Mensch und Pferdekopf
Ich heiße Christine Dosdall, genannt Tine, geboren 1986 und lebe mit meinen Tieren in Berlin. Wenn ich nicht gerade hinter dicken Büchern verschwunden bin, findet ihr mich im Stall bei meinen Pferden Krümel und Alkmene oder zusammen mit meiner Katze Mucki auf der Couch.

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