von Tine in Trainingsgedanken am 11. Juni 2016
Nachdem ich mich vor Kurzem in meinem Artikel für Easy Dogs über Selbstbestimmtes Lernen ausführlicher mit Initiatorverhalten und Co. beschäftigt habe, möchte ich euch das heute gerne an einem konkreten Beispiel zeigen.

Vor ein paar Jahren habe ich mit meiner Stute Chance daran gearbeitet, dass sie den Umgang mit einer Maulspritze (für Wurmkuren, Medikamente usw.) kennenlernt. In den Jahren zuvor war das immer ein ziemlicher K(r)ampf, da sie es weder mag, am Halfter fixiert zu werden, noch mit fremden Gegenständen in Berührung zu kommen. Im vorangegangenen Training haben wir uns natürlich schon mit verschiedenen dieser Themen beschäftigt, sodass ich im Verlauf dieser Trainingseinheit davon profitieren kann.

Ohne jetzt all zu detailliert darauf einzugehen, denn die verschiedenen Verhaltensweisen werden eh im Rahmen der nachfolgenden Analyse beschrieben, nur soviel: sie kennt diverse (Kopf-)Targets, unter anderem die Hand an Halfter/Kappzaum, sie kennt an diesem Punkt bereits die leere Spritze im Maul, und sie kennt das Konzept "Unheimliche Dinge berühren".

Zur Blickschulung könnt ihr euch an dieser Stelle das Video erst einmal ansehen - dazu könnt ihr einfach an beliebiger Stelle 2-3 Wiederholungen betrachten und versuchen zu notieren, welche Signale und Reaktionen (von meiner Stute und von mir) euch auffallen. Wer leitet die nächste Wiederholung ein, welche Reaktion folgt auf welches Signal, und was sind die möglichen Verstärker?


Zur Auswertung von Trainingsvideos reicht es im Übrigen oft aus, an 2-3 beliebigen Stellen des Videos für ca. 30sec genau zu beobachten, was passiert - die meisten Dinge wiederholen sich.

In meinen Augen sieht der Trainings-Loop (damit ist jeder einzelne Durchgang innerhalb der Trainings-Einheit gemeint, der mit Click & Verstärker beendet wird) so aus:
  • Initiatorsignal: Die Stute Chance bewegt ihren Kopf in meine Richtung und/oder berührt aktiv die, in meiner Hand befindliche, Spritze.
  • Signal 1: Ich biete ihr die linke, leicht geöffnete Hand an, als Signal dafür, ihren Kopf mit dem Halfter zu mir zu bewegen.
  • Verhalten 1: Sie bewegt ihren Kopf mit dem Halfter in meine Hand (Target-Verhalten).
  • Signal 2: Ich fasse locker in ihr Halfter, als Signal an sie, ihren Kopf ruhig zu halten (Halftergriff).
  • Verhalten 2: Sie hält ihren Kopf ruhig.
  • Signal 3: Ich präsentiere ihr die Spritze, als Signal dafür, diese ins Maul zu nehmen bzw. in den Maulwinkel stecken zu lassen.
  • Verhalten 3: Sie nimmt die Spritze ins Maul.
  • Signal 4: Ich halte die Spritze mit der rechten Hand so, dass sie auch bei Kopfbewegungen locker mitgehen kann, dabei bleibt die linke Hand locker am Halfter - Signal dafür, den Kopf auch mit Spritze im Maul ruhig zu halten.
  • Verhalten 4: Sie hält den Kopf mit Spritze im Maul ruhig.
  • Signal 5: Ich appliziere etwas Apfelmus aus der Spritze in ihr Maul, dabei bleibt weiterhin die linke Hand am Halfter - Signal dafür, den Kopf auch mit Spritze im Maul ruhig zu halten, während Flüssigkeit aus der Spritze kommt.
  • Verhalten 6: Sie lutscht an der Spritze bzw. bewegt den Kiefer.
  • Signal 7: Ich halte die Spritze mit der rechten Hand so, dass sie auch bei Kopfbewegungen locker mitgehen kann, dabei bleibt die linke Hand locker am Halfter - Signal dafür, den Kopf auch mit Spritze im Maul ruhig zu halten.
  • Verhalten 7: Sie hält den Kopf mit Spritze im Maul ruhig.
  • Verstärkungsprozess: Ich clicke (sekundärer Verstärker, Markersignal), entferne die Spritze aus dem Maul (negative Verstärkung) und füttere ein Stück Apfel (positive Verstärkung).

Dabei wird die normale Reihenfolge von

Ankündigung/Signal - Verhalten - Konsequenz/Verstärker

ausgeweitet auf

Ankündigung/Signal - Verhalten - Konsequenz/Signal - Verhalten - Konsequenz/Signal - Verhalten - Konsequenz/Verstärker.

In diesem Fall sprechen wir zwar noch nicht von einer Verhaltenskette, da diese per Definition durch ein einzelnes Signal ausgelöst würde, aber von einer Verhaltenssequenz, die von mehreren Signalen geleitet wird, und mit dem Verstärker beendet. Dabei greift das Prinzip, dass das Signal für ein (positiv) verstärktes Verhalten gleichzeig den Charakter eines tertiären Verstärkers annimmt - ein Verstärker, der das Markersignal (sekundärer Verstärker) und das Futter (primärer Verstärker) ankündigt.



An dieser Stelle wird dem aufmerksamen Leser schon aufgefallen sein, dass man diese Beschreibung genausogut aus Sicht des Pferdes hätte schreiben können. Jedes Verhalten meiner Stute, bzw. jede Reaktion auf meine Signale ist ebenfalls ein Signal an mich, mit dem nächsten Schritt fortzufahren. Das könnte dann, zum Beispiel, so aussehen:
  • Signal 1: Die Stute Chance bewegt ihren Kopf in meine Richtung und/oder berührt aktiv die, in meiner Hand befindliche, Spritze. Signal dafür, dass ich meine linke Hand hebe.
  • Verhalten 1: Ich biete ihr die linke, leicht geöffnete Hand an.
  • Signal 2: Sie bewegt ihren Kopf mit dem Halfter in meine Hand. Signal dafür, dass ich das Halfter locker in meine Hand nehme.
  • Verhalten 2: Ich fasse locker in ihr Halfter..
  • Signal 3: Sie hält ihren Kopf ruhig. Signal dafür, dass ich die Hand mit der Spritze hebe.
  • Verhalten 3: Ich präsentiere ihr die Spritze.
  • Signal 4: Sie nimmt die Spritze ins Maul. Signal dafür, dass [...]

Gutes Training ist meiner Ansicht nach immer ein Dialog beider Trainingspartner, bei dem jeder auf die Signale des Anderen achtet, und seine eigene Reaktion darauf flexibel und angemessen anpasst.


In diesem Zusammenhang kommen für mich folgende Konzepte zum Tragen:

Standardverhalten

An jeder einzelnen Stelle des Trainingsdurchganges, warte ich auf ihr Standardverhalten - ruhige Kopfhaltung ohne Kautätigkeit mit Aufmerksamkeit bei mir (z.B. an den Ohren zu erkennen). Dieses Standardverhalten ist das Signal an mich, mein nächstes Signal zu geben, da ich so weiß, dass sie es auch mitbekommt. Außerdem ist für mich eine Grundvoraussetzung dafür, ein Signal zu geben, um nicht ungewollt unerwünschtes Verhalten mitzuverstärken - da jedes gegebene Signal das vorhergegangene Verhalten verstärkt.

(Falls sich an dieser Stelle jemand fragt, wie ich das so nah am Pferd denn erkennen kann: Ich kenne meine Stute schon ein paar Jahre, und kann es anhand ihrer Muskelspannung und Reaktionen sehen, bzw. auch einfach mit der Hand am Halfter spüren. Das Standardverhalten - wie Halftergriff oder andere Varianten - gehört für mich inzwischen zu den ersten Übungen die ein Pferd im Training lernt/lernen sollte. Es ist weniger eine konkrete Übung, sondern eine Einstellung, und diese gilt gleichermaßen für Mensch und Pferd.)

Initiatorsignal

Mit jeder "richtigen" Reaktion auf mein Signal teilt sie mir mit: 'Ja, ich bin bereit, wir können einen Schritt weiter gehen'. Würde Sie an dieser Stelle zögern, würde ich den nächsten Schritt nicht gehen, und im nächsten Durchgang eventuell ein einfacheres Kriterium wählen.

Zustandssignal

Mit jeder "richtigen" Reaktion auf mein Signal teilt sie mir mit: 'Ja, das ist ein Schritt, den ich schaffe, ich kann dem aktuellen Training mit Zuversicht folgen'. -> Würde Sie an dieser Stelle zögern, würde ich bei den weiteren Durchgängen das Kriterium nicht steigern.

Das Recht, jederzeit den Trainingsdurchgang zu unterbrechen

Reagiert sie nicht innerhalb einer sinnvollen Zeit (2-3 Sekunden) auf mein Signal, senke ich nach und nach die Kriterien, z.B. Hand mit Spritze sinken lassen, Hand vom Halfter nehmen. Auch wenn dabei der (von mir geplante) positive Verstärker - der Apfel - ausbleibt, ist das Entfernen meiner Hände (negativer Verstärker) in dieser Situation ein wichtiger Verstärker für sie. Er sagt aus: 'Ja, du hast das Recht, Nein zu sagen, und auch das ist vollkommen in Ordnung'. Kurz darauf signalisiert sie mir mittels Initiatorsignal, dass sie jetzt wieder bereit für den nächsten Durchgang ist.

Abwesenheit von Strafe

Falls meine Stute zwischendurch eine kleine Pause braucht, kann sie sich am frei zur Verfügung stehenden Heu bedienen. Dadurch steckt sie nicht in der Zwickmühle, sich zwischen einer unangenehmen Übung (für den positiven Verstärker Futter) oder einem Time-Out (dem Verlust der Möglichkeit, an Futter zu kommen - negative Strafe) zu entscheiden.

Für viele Pferde ist dieser unterschwellige Druck einer der Hauptauslöser für Übersprungshandlungen wie Schnappen oder aus der Übung auszusteigen.


Ich hoffe, ich konnte euch mit diesem Artikel ermuntern, euch einen Augenblick Zeit zu nehmen, und das Training mit euren Tieren noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Auch ich laufe nicht immer mit einem konkreten Plan für das Training durch die Gegend und gehe sehr oft einfach auf die aktuelle Stimmung und Gesamtsituation ein. Dennoch filme ich gerne mal mit, wenn es sich anbietet, um mir dann zu Hause ganz in Ruhe anzusehen, wie die Kommunikation denn gelaufen ist. Ist es eine Konversation, bei der beide Seiten wie bei einem Tanz fein und leicht und flexibel miteinander agieren? Oder habe ich dem Pferd eigentlich nur die Wahl gelassen, freiwillig oder unfreiwillig zu machen, was ich sage? Oder reagiere ich vielleicht die meiste Zeit nur darauf, was das Pferd macht, und bin daher mal wieder an einem Punkt im Training gelandet, wo ich gar nicht hin wollte? All das sind Fragen, auf die es kein Richtig oder Falsch als Antwort gibt - nur das Potenzial etwas über sich selbst zu lernen, und für die Zukunft mit unseren Tieren mitzunehmen.

In diesem Sinne wünsche ich euch ein schönes Wochenende und keine Angst davor, euch selbst auf Video zu sehen.


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Über mich

Mensch und Pferdekopf
Ich heiße Christine Dosdall, genannt Tine, geboren 1986 und lebe mit meinen Tieren in Berlin. Wenn ich nicht gerade hinter dicken Büchern verschwunden bin, findet ihr mich im Stall bei meinen Pferden Krümel und Alkmene oder zusammen mit meiner Katze Mucki auf der Couch.

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